Rede, damit ich Dich sehe (Sokrates)
… und damit ich mich selber besser spüren kann (Melanie Geßner)
Der Ort, an dem wir uns als Kind sicher und geborgen fühlen sollten, ist gleichzeitig der gefährlichste für uns: die Familie. Dort wird am meisten sexueller Missbrauch durch Angehörige erlebt, ebenso im Nahbereich wie in Institutionen (Schule, Sportvereine etc.).
In der öffentlichen Aufmerksamkeit ist der Missbrauch an Mädchen wesentlich präsenter als der Missbrauch an Jungen. Dies bestätigen auch die Zahlen. Ich denke, dass die Dunkelziffer sowohl an betroffenen Jungen als auch an missbrauchenden Frauen (als Täterinnen, aber vor allem als Mittäterinnen/Mitwissende; insbesondere auch Müttern) deutlich höher liegt, als uns bekannt und vorstellbar ist. Es ist davon auszugehen, dass Frauen solche Taten und Grenzüberschreitungen weniger bis gar nicht zugetraut werden und sie somit seltener entdeckt werden. Gleichzeitig ist dadurch die Schamgrenze, sich zu offenbaren, insbesondere von Jungen (aber natürlich auch von Mädchen) um einiges höher, als wenn der Täter ein Mann war. Nicht selten wird von Männern ein Missbrauch durch eine Frau nicht als solches wahrgenommen.
Dass erwachsene Menschen ihre Macht benutzen, Kinder zu manipulieren, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ist allerdings keine ausschließlich männliche Domäne. Hierbei meine ich nicht nur das Ausüben von sexualisierter Gewalt, sondern auch das ganze Spektrum des emotionalen Missbrauchs.
Wenn wir familiär destruktives und doppeldeutiges Verhalten erlebt und erlernt haben, ist dieses in unserer DNA verankert. Wir müssen meist schmerzliche weitere Erfahrungen als Erwachsene machen, um uns selbst besser begreifen zu können.
Menschen, die sexuelle Grenzüberschreitungen erlebt haben, haben oft Kompassprobleme. Damit meine ich Situationen, die sie so triggern, dass die Grenzen für sie unkenntlich werden und das Gefühl aufkommt, als wenn der Körper unter Wasser die Orientierung verliert: Was möchte mein Gegenüber von mir? Worum geht es eigentlich? Was ist meine Baustelle? Welche Probleme gehören zu meinem Gegenüber? Wo beginne ich und wo beginnt der persönliche Raum des anderen? Typisch ist auch der sofortige Impuls alles auf sich selber zu beziehen: Ich hab einen Fehler gemacht. Ich muss nur etwas bestimmtes tun, dann entspannt sich die Situation etc.
Ich bin sehr für Klarheit, aber auch für eine Klarheit, die mal unscharf bleiben darf. Manche Dinge müssen wir einfach hinnehmen und lernen damit zu leben. Für mich bedeutet das nichts anderes, als sich selber auszuhalten lernen. Prinzipiell glaube ich auch nicht daran, dass wir „Probleme auflösen“ oder beseitigen können. Es wäre ja schön, wenn das ginge. Allerdings können wir keine von unseren Erlebnissen und Prägungen einfach „wegmachen“, wie es uns gefällt. Vor allem nicht, wenn sie uns unbewußt steuern. Wir können aber unsere Verhaltensweisen erkennen, unseren Fokus verändern und somit zu einem Perspektivwechsel gelangen, der es uns zukünftig möglich macht, unsere erlernten Strategien anzunehmen und diese vielleicht auch mal anders einzusetzen.
Betroffene sind mehr als der Missbrauch, denn diese Zeit betrifft nur eine bestimmte Zeit Ihres Lebens. Sie macht nicht Ihr ganzes Selbst aus. Sie sind nicht zerstört. Ich bin der festen Überzeugung, das etwas in Ihnen heil und unberührt geblieben ist, weil Sie dafür gesorgt haben. Selbst wenn Sie dies nicht erkennen.